Diesen Sommer kommen sie in Scharen: die Schweizer Gäste. Noch nie zuvor hätte es so viele Schweizer in der Schweiz gegeben, habe ich neulich bei einem Referat zum touristischen Sommer 2020 gehört. Das Lachen des Publikums folgte prompt – und passte sogar ganz gut zum Veranstaltungsort, einem Zirkus.
Schweizer Gäste noch und noch
Den Schweizer Tourismus in der COVID-19-Krise beschrieb Reto Wilhelm in seinem Blogbeitrag vom 15. Juni 2020 als symptomatisch für einen schleichenden Prozess von Erosion. Neue Wege, Umdenken und Nachhaltigkeit seien gefragt. Auch am Referat im Zirkus hiess es: Wenn die Schweizer Gäste diesen Sommer zahlreich kämen, sei das eine einmalige Chance, treue Gäste zu gewinnen. Auch von einer echten Willkommenskultur war an diesem Nachmittag die Rede. Diese lebte der Zirkus als Gastgeber übrigens eindrücklich.
Die schon vor der Pandemie umworbenen Schweizer Gäste werden also zahlreich kommen. Einige Schweizer Hot Spots haben bereits während des Lockdowns einen Vorgeschmack auf den touristischen Sommer 2020 gegeben – vom neuenburgischen Creux du Van bis zum glarnerischen Klöntal. Die Auswirkungen: Qualitätsverluste für das Freizeit- und Naturerlebnis, zu wenig konsumierbare Angebote, Abfallberge und behördlich verordnete Kontingente.
Mut zur Klarheit
Was also tun mit der Masse, die man so sehr will, aber nicht um jeden Preis? In meiner Kindheit zierte der Spruch «Jeder Gast ist gern gesehen – teils beim Kommen, teils beim Gehen» den Eingang eines Restaurants auf meinem Schulweg. Ich fand das amüsant, weil ich in einem Restaurant aufwuchs. Störte ein Gast, hatten wir ruhig zu sein, zumindest bis er ging – im Notfall also null Kommunikation. Doch dieses Konzept ging eigentlich vor 40 Jahren schon nicht auf.
Im Chancen-Sommer 2020 geht es nicht nur darum, den begehrten Gast anzulocken. Es geht auch nicht nur darum, ihn freundlich zu empfangen. Es geht darum, mit dem Gast ehrlich zu sein. Nicht nur, aber erst recht, weil Pandemie-Bedingungen herrschen. Ehrlich kommunizieren ist gerade jetzt – im Spannungsfeld von klassischer behördlicher (Auflagen) und touristischer Kommunikation (Verkauf) – wichtig. Im besten Fall begegnen sich dabei Gast und Gastgeber auf Augenhöhe. Dazu braucht es etwas Kreativität der Gastgeber, etwas Flexibilität der Gäste und etwas Reflexion aller.
Nach dem Lockdown locker bleiben
Um den Folgen der neuen Bedingungen offen und ehrlich zu begegnen, braucht es Kreativität auf der einen Seite – mit Angeboten, die auf das (veränderte) Qualitätsbedürfnis der Gäste eingehen. So gestalten zum Beispiel die Verantwortlichen der Biosphäre Entlebuch einen Parkplatz zu einem Campingplatz um. Auf der anderen Seite braucht es Flexibilität – mit dem Verzicht auf den Besuch von Hot Spots, auch wenn sie noch so anziehend sind. So verteilen zum Beispiel die Verantwortlichen im Glarnerland bei hohem Verkehrsaufkommen Flyer mit weiteren Ausflugstipps in der Region.
Reflektiert…
Verantwortungsbewusstes Handeln ist vermutlich die grösste Herausforderung. Natur- und Erholungsräume zeichnen sich durch Belassenheit und Ruhe aus. Zu viel Verkehr und Abfallberge u. a. (zer)stören diese Qualität. Auch bei Umweltgefahren sollte man nicht auf den konkreten Fall warten, der dann auf Social Media «diskutiert» wird. Sie aktiv zu thematisieren hat das Potenzial, sich als verantwortungsvollen Gastgeber zu etablieren – zum Beispiel der Umgang mit erhöhtem Zeckenaufkommen oder das Verhalten bei der Begegnung mit Mutterkühen.
…konsumiert…
Auch in Zeiten der Pandemie, geht es darum, Gäste zum Konsumieren zu motivieren – auch aus Solidarität gegenüber der einheimischen Tourismusbranche. Dazu braucht es nicht zwingend neue Produkte. Zum Beispiel können Gäste angespornt werden, in der Region zu übernachten, um hohes Verkehrsaufkommen zu vermeiden. Warum also nicht eine symbolische Kurtaxe auf Tagesausflüge einführen? Es braucht den Mut, auch bisher Kostenloses zu hinterfragen und ihm ein Preisschild zu geben, zum Beispiel für Passüberfahrten, die Abfallentsorgung oder die Benutzung von Wanderwegen.
…bringt Wertschöpfung
Der Clou daran: Der Preis setzt das Produkt in Wert, das Angebot wird buchbar und kommunizierbar – und es lässt sich mit anderen Angeboten paketieren. Ob die Schweizer Gäste das goutieren? Zumindest im Ausland scheinen sie das zu tun – zum Beispiel in Nationalparks in den USA oder in Neuseeland, wo selbst (oder erst recht) dafür bezahlt wird, dass Kontingente die Qualität des Natur- und Freizeiterlebnisses sichern.
Weiterlesen: Blogbeitrage «Gegen die Kurzatmigkeit» von Reto Wilhelm
Weiterlesen: «Mit dem Label ‹Clean and Safe› müssen wir uns in Zeiten von Covid-19 nicht brüsten, klatschen können bei solchen Massnahmen nur die Werbeagenturen», sagt der etwas andere Tourismusdirektor Theo Schnider in der NZZ.
Weiterschauen: Video SRF ZWEI am Morge «Schweizer Wandertypen»