Nathaly Tschanz hat uns mit ihrem Impulsreferat bei Lunch & Lean in die Welt der Augmented und Virtual Reality eingeführt. Die Dozentin an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Chur beschäftigt sich im Rahmen ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit mit Digital Business Management und Augmented, Mixed und Virtual Reality und berät Unternehmen bei der Umsetzung verschiedener Projekte.
Augmented (AR) und Mixed Reality (MR) üben eine grosse Faszination aus. Was sind – neben dem Überraschungseffekt – die Stärken der neuen Technologien?
Das kommt ganz auf den Bereich an. In der Industrie wird AR seit Langem und MR seit der HoloLens in unterschiedlichen Feldern eingesetzt (Reparatur, Wartung, Konstruktion, Forschung, Anlagenbau etc.) Der medizinische Bereich ist ebenfalls ein wichtiges Anwendungsfeld (Ausbildung von medizinischem Personal, OP-Planung etc.)
Bezogen auf den Bereich Marketing, Kommunikation und PR liegen die Stärken von AR/MR sicher darin, dass sie uns helfen, auf das veränderte Nutzerverhalten zu reagieren.
Durch die zunehmende Medienflut und die Medienfragmentierung entsteht bei uns eine Überlastung bei der Wahrnehmung. Einfach ausgedrückt: Es strömen zu viele Informationen auf uns ein, als dass wir diese einordnen und verarbeiten könnten. Das Meiste kommt gar nicht bei uns an. AR und MR bieten ein paar wichtige Assets bei diesem Dilemma: Aufmerksamkeit schaffen, Emotionen wecken, Aktivierung, Involvement, das Ansprechen mehrerer Sinne gleichzeitig (multisensory enhancement), die Möglichkeit, komplexe Sachverhalte einfach darzustellen etc.
AR wird auch in der Marketingkommunikation vermehrt eingesetzt. Welche Möglichkeiten bieten sich im Kontext von PR, Marketing und Social Media?
Gerade im Handel sind Kaufentscheidungen stark vom Produkterlebnis getrieben, welche Kunden am Point-of-Sale haben. Durch AR/MR bietet sich die Möglichkeit, Produkte effektiv in Szene zu setzen, indem diese vor dem Kauf ausprobiert werden können, beziehungsweise der Einsatz in einer realen Situation vorgeführt wird. (Beispiele: IKEA, NikeID Augmented etc.) Durch AR lassen sich Gegenstände wie durch Zauberhand mit einer Metaebene versehen und so Emotionen wecken (Bsp. Living Wine Labels). Eine weitere Stärke ist die Möglichkeit, Offline und Online zu verbinden (Bsp. Ringier Geschäftsbericht).
Auch bei Messen werden die Technologien gerne eingesetzt. Denn da ist der Konkurrenzkampf meist gross und jeder Anbieter buhlt um die Aufmerksamkeit der Besucher. Daher sind innovative Auftritte gefragt, welche die Standbesucher verblüffen und faszinieren (Beispiel: Mercedes Benz).
Generell verändert sich unsere Welt immer schneller und auch der Bereich der Markenführung durchläuft eine Metamorphose. Neue Technologien und Trends, soziale Netzwerke, ein erbitterter Kampf um Aufmerksamkeit bei den informationsüberfluteten Zielgruppen – das Umfeld, in dem sich heute Unternehmen zu behaupten haben, wird immer komplexer und kompetitiver. Wie geht man damit um? Am besten, indem man versucht, sich ebendiese Hürden zunutze zu machen – also die Markenführung dem digitalen Zeitalter anzupassen (Dutch Lady). Es gibt also unzählige Einsatzmöglichkeiten – zu viele, um sie hier alle aufzählen zu können.
AR und MR wurde vor wenigen Jahren eine goldene Zukunft vorausgesagt. Nun scheint der Hype etwas ins Stocken geraten zu sein. Lohnt sich die Investition in diesem Bereich oder ist der Boom bald wieder vorüber?
Wenn man sich die horrenden Investitionssummen anschaut, welche sämtliche grossen Player wie Apple, Google, Facebook, Microsoft etc. im Moment in dem Bereich tätigen, bezweifle ich stark, dass es sich hier wirklich nur um einen Hype handelt. Ich würde hier auch nicht «von ins Stocken geraten» sprechen – ganz im Gegenteil. «Wettrüsten» trifft es da schon eher. Der Bereich entwickelt sich in solch horrendem Tempo, dass einem fast schwindlig wird. Apple hat letzten Sommer ARKit präsentiert – ein Framework, mit dem Entwickler hochwertige AR-Apps bauen können. Ein Software-Update (iOS 11) genügte und wir hatten auf einen Schlag Millionen von AR-kompatiblen Smartphones. Es ist die gleiche Art der schnellen Übernahme, die Apple 2008 mit der Einführung des App-Stores erlebt hat.
Kurze Zeit später zog dann auch Google mit ARCore nach.
Ein Boom, der bald wieder vorbei ist? Tim Cook, der CEO von Apple, sieht das auf alle Fälle nicht so: «We’re already seeing things that will transform the way you work, play, connect and learn. Simply put, we believe augmented reality is going to change the way we use technology forever.»
Was raten Sie Betrieben, die sich für den Einsatz von AR/MR interessieren? Was ist dabei zu beachten?
Mit AR und MR wurde unser Werkzeugkasten durch zwei neue Visualisierungsmedien erweitert. Am Handwerk selber ändert sich deswegen nichts. Auch beim Einsatz der neuen Technologien gelten weiterhin die gleichen Regeln wie bisher: Ohne ein klares, durchdachtes Konzept – abgestimmt auf die definierte Zielgruppe – geht es auch in diesem Fall nicht. Lassen Sie die Hände weg von Gimmick und kreieren Sie stattdessen Mehrwert für den User. Geben Sie ihm also einen Grund, die Anwendung mehr als nur einmal zu verwenden. Schlussendlich entscheiden sich Kunden nicht für Technologie. Sie entscheiden sich für Funktionalitäten und die daraus resultierenden Benefits.
Fragen Sie sich auch immer, ob AR/MR das richtige Medium ist. Kommen die Stärken der Technologien (Engagement, Interaktivität, Gamification etc.) bei Ihrem Vorhaben zum Tragen resp. nutzen Sie das Potenzial wirklich aus? Wenn ja – super. Wenn nein – lassen Sie es bitte besser bleiben.
Halten Sie die Anwendung so einfach und intuitiv wie möglich, damit Sie den User unterwegs nicht verlieren und kommunizieren Sie klar mit ihm. Und zu guter Letzt: Nutzen Sie die Möglichkeiten von Tracking und Targeting, um die Anwendung und die User Experience stetig zu verbessern.
Wie und wo kann man sich zu dieser Thematik weiter informieren?
Es gibt mittlerweile zahlreiche Blogs, die täglich aktuelle News zu den Themen Augmented und Mixed Reality liefern ( z.B. augmented.org, reddit.com/r/augmentedreality, augmented.reality.news, roadtovr.com/category/augmented-reality etc.)
Ein besonderes Erlebnis ist sicher auch der Besuch einer AWE Europe (Augmented World Expo), die jedes Jahr in München stattfindet. An den zwei Tagen trifft sich dort eine bunte Mischung aus Entwicklern, Kreativ-Agenturen, Künstlern, Investoren, Medienschaffenden etc., es gibt diverse Vortrags-Panels und eine riesige Ausstellungshalle, wo man sämtliche Neuheiten bestaunen kann.
Und es lohnt sich auch, jährlich die Auggie Awards mitzuverfolgen. Denn dort werden jedes Jahr die besten Projekte nominiert und ausgezeichnet.
Wer mehr wissen will, kann sich mit diesen Büchern in die Materie vertiefen:
«Augmented und Mixed Reality für Marketing», Medien und Public Relations, Verlag UVK
Praxishandbuch Augmented Reality, Verlag UVK